199,534 Jahre Pułtusk.


Die Schlacht bei Pułtusk fand am 26. Dezember 1806 auf schneebedeckten Feldern statt. Die Franzosen unter Lannes attackierten die Russen unter Bennigsen und zwangen sie zum Rückzug.

Einem Gerücht zufolge befahl Lannes während der Schlacht, die französischen Truppen möglichst in der Sonne aufzustellen, damit sie sich etwas aufwärmen konnten. Diese Fürsorglichkeit sollte Folgen bis auf den heutigen Tag haben.

Drei unerschrockene Grenadiere der 22e demi-brigade de ligne, Fabius, Sans-Souci, und Copain, machten sich quer durch Europa auf, um an der aus unbekannten Gründen in den Sommer vorverlegten Ungefähr-200-Jahr-Feier teilzunehmen. Einer von ihnen erzählt hier, wie es gewesen ist.

Luftbild der russischen Seite des Schlachtfeldes. Im Hintergrund das alliierte Lager, vorne rechts die Zuschauertribünen, vorne links unsere Deckung bei unserer Tirailleur-Attacke. Photo von www.poloniamilitaris.pl

6. Juli: Ankunft

Abends, es wird gerade dunkel. Wir sind endlich in historischer Kleidung, und suchen unseren Weg zum vielleicht 500 Meter entfernten Lager, querfeldein durch Bäume, Gebüsch und Gestrüpp. Nur um die Sumpflöcher machen wir einen Bogen. Ein Grenadier findet sich überall zurecht. Als wir auf einen Weg stoßen, man hört schon die Geräusche des Lagers, kommen uns einige Tschechen entgegen. Der eine spricht recht gut deutsch und ist gerade auf dem Weg zurück ins französischen Lager. Wir schließen uns ihm an. Nach etwa zehn Minuten, die Geräusche des Lagers sind längst verstummt, erreichen wir den Dorfplatz von Pułtusk, etwa 1000 Meter vom Lager entfernt. Es geht eben nichts über ortskundige Führer.

Zwei Grenadiere überreden den widerstrebenden dritten, in einer modernen Kneipe ein Bier zu trinken, statt sofort ins Lager in eine ansprechendere Umgebung zu gehen. Grummel. Wir kommen mit einigen netten Polen der Weichsel-Legion ins Gespräch, mit denen wir auch später im Lager den Rest des Abends verbringen.

Im "authentischen" Zeltlager sind wir die einzigen, die keine Zelte haben. Holz und Stroh gibt es genug, auch die Verpflegung ist OK (Copain ist da allerdings anderer Ansicht), und Wasser ist in den benötigten Massen da, wenn auch leider nur in Plastikflaschen.

Zum Glück haben sich die zahlreichen Mücken, die jeden Tag bei Einbruch der Dämmerung aktiv werden, in der Regel nach etwa zwei Stunden alle sattgesaugt, so daß man für den Rest der Nacht seine Ruhe hat. Bei nächtlichen Gängen ins nahe Gebüsch ist man jedoch augenblicklich von so vielen noch ausgehungerten Mücken umgeben, daß ich jedesmal um empfindliche Körperteile bange.

7. Juli: Exerzieren.

Der General. Und ein Hansel ohne Halsbinde. Photo von Marcin Piontek, www.arsenal.org.pl Morgens früh werden wir aus dem Schlaf getrommelt, nach einem Frühstück (Weißbrot mit irgendetwas, das aussieht wie gehackte Blutwurst, aber leider nur sehr fade schmeckt) treten wir auf dem sonnenbeschienenen Damm vor dem Lager an. Wir formieren eine manchmal als Section, manchmal als Peloton bezeichnete Kleinstgruppe aus 3 Grenadieren unserer unvergleichlichen 22e demi-brigade de ligne, 1 Caporal der 19e demi-brigade de ligne, aus Malta, und 1 Sergent und 4 Füsilieren des südfranzösischen 18e régiment d'infanterie de ligne.

Nach einiger mit abwechslungsreicher Warterei verbrachter Zeit kommt General Sokolov vorbeigeritten, wie immer im Galopp, begleitet von einem unsichtbaren Heiligen Sakrament (jedenfalls werden die Gewehre präsentiert, und das geschieht in Formation doch nur vor dem Heiligen Sakrament, dem ehemaligen Ersten Konsul, Marschällen, Ministern und Mitgliedern der kaiserlichen Familie), dann wird "Vive l'Empereur" gerufen (Wir antworten mit "Vive ma Sœur", was aber zum Glück für die weitere militärische Karriere unseres kommandierenden Sergents keiner merkt), und schon nach einer weiteren halben Stunde bekommen wir den Befehl, wieder ins Lager abzurücken, um danach ohne Uniformrock anzutreten.

Copain in der vorschriftsmäßigen langärmeligen Weste macht eine gute Figur, doch dummerweise habe ich nur meine ehemalige Sergenten-Weste ohne Ärmel mit. Aber Befehl ist Befehl. Zum Glück (oder so was ähnlichem) falle ich in meinen Hemdsärmeln neben vielen anderen ebenso unanständig gekleideten Re-Enactors, und denen mit T-Shirts oder gleich ganz nacktem Oberkörper, nicht weiter auf. Auch in den folgenden Tagen sind wir 22er beinahe die einzigen, die man im Lager ordentlich gekleidet mit Halsbinde, Kopfbedeckung und ohne Hemdsärmel sieht.

Wir treten wieder an, warten etwas, um uns allmählich an die Sonne zu gewöhnen, und marschieren dann zur riesigen Exerzierwiese, die schön idyllisch von sehr niedrigem Strauchwerk umgeben ist. Jetzt schon beginne ich, unseren alten, menschenfreundlichen General Rodà zu vermissen, der sich stets darum bemühte, seinen Soldaten das Leben so wenig unangenehm wie möglich zu machen.

Der Hinmarsch geschieht im Flankenmarsch ("Peloton par le flanc droit - droite"). Dank des hohen Ausbildungsgrades sämtlicher Offiziere, Unteroffiziere und fast aller Mannschaften verlängert sich dabei die Marschkolonne um die Hälfte, weil jeder Angst hat, seinem Vordermann in die Haxen zu treten. Wenn wir wenigstens in Sektionskolonne abmarschiert wären, dann ... aber wieso mit Defätisten rumrechten? Dafür gibt es andere.

Auf der Exerzierwiese angekommen, erwartet uns der General, der zunächst kurz Luft holen muß. Glücklicherweise hat er eine so kräftige Stimme, daß wir alle Worte seiner Unterredung mit den sogleich zusammengerufenen Bataillonskommandeuren genau mitbekommen, was uns die Langeweile des in der Sonne auf weitere Kommandos Wartens etwas verkürzt:

"So eine Sch.... (ins deutsche übertragen, aber das französische Wort, M...., ist auch nicht viel besser)! Das ist völlige Sch....! In Sektionskolonne habe ich gesagt! Sektionskolonne! Wir sind auf einem Feldzug! Ihr macht nur Sch....! So eine Sch....!"

Na ja, durch die vielen Wiederholungen wirkt es dann doch weniger und weniger kurzweilig.

Der Effekt vom Ganzen ist, daß wir uns in etwas formieren, das euphemistisch als "Sektions-Kolonne" bezeichnet wird. Unser Sektions-Chef zeigt sich dabei so diensteifrig, daß er beide Funktionen, die des Chef de Section und die des Guide, alleine ausfüllt. Die Marschkolonne ist trotzdem genauso lang wie vorher, weil jeder (ja, tatsächlich jeder!) Sektions-Chef trotz des vom Bataillons-Chef gegebenen Kommandos "Colonne - en avant - marche" erst dann losmarschiert, nachdem die Sektion vor ihm sich bereits einige Schritte in Bewegung gesetzt hat.

Die eigentlich zum Kommando gehörende Ankündigung "Guide à gauche" wurde dabei sowieso weggelassen, um Unteroffiziere wie Soldaten nicht unnötig zu verwirren. Kaum einer der Re-Enactors weiß, was ein Guide ist, und diejenigen, die Guide sind, wissen nicht, was ihre Aufgabe ist.

Nun gut. Bataillons-Exerzieren ist angesetzt. Ich stehe im zweiten Glied. Schmale Schultern direkt vor mir. "Peloton par le flanc droit - droite". Breite Schultern direkt vor mir. Das nächste Kommando. Schmale Schultern. Breite Schultern. Schmale Schultern. Breite Schultern. Schmale Schultern. Und so fort. Zwischendurch immer ein paar Schritte vorwärts.

Zu lernen ist wenig. Unser Sektions-Chef (oder so ähnlich, die Struktur unseres "Bataillons" scheint sich laufend zu ändern, wir werden manchmal als 3ème section, manchmal als 2ème section des 2ème peloton betitelt, manchmal sind wir auch die section de tirailleurs oder das 3ème peloton) hat seine Peloton-Schule auch noch nicht gelesen und improvisiert seine Kommandos. Aber das machen ja alle anderen auch.

Der Bataillons-Kommandeur leiert mit tschechischem Akzent eine ganze Folge von Worten herunter, die selbst unsere Franzosen nicht verstehen. Da es nun wohl nicht Französisch ist, auch kein Spanisch, und der Grenadier Fabius auch Italienisch kategorisch ausschließt, sich das ganze aber doch irgendwie romanisch anhört, kommen wir zum Schluß, daß wir vermutlich portugiesische Kommandos hören, wahrscheinlich, der Qualität der Bewegungen nach, dem Exerzier-Reglement für die portugiesische Miliz entnommen. Schmale Schulter. Breite Schulter. Wenigstens scheint zur Abwechslung die Sonne.

Ein findiges Pferdchen. Photo von www.poloniamilitaris.pl Während wir uns in einer kurzen Pause auf dem Boden liegend etwas sonnen, traben die französischen Reiter direkt an uns vorbei. Obwohl es nur etwa 30 bis 40 Pferde sind, bebt der Boden leicht.

Leider ist von den drei Reitergruppen auf französischer Seite nur eine, polnische Ulanen, sehr gut exerziert, allerdings nach einem polnischen Reglement aus dem 1920er Jahren. Doch im Laufe des Tages bemerkt man auch bei den anderen beiden Gruppen eine Verbesserung in der Fähigkeit, die Formation beizubehalten. Und auf 100 Schritt Distanz sieht man auch nicht mehr, daß die Brust- und Rückenpanzer der französischen Kürassiere alle aus silbern bemaltem Plastik sind.

Das Pferd eines Adjutanten, ein Apfelschimmel, sorgt auf seine Weise für allgemeine Unterhaltung. Es senkt den Kopf nieder und schiebt seine Vorder- und Hinterhufen immer näher aufeinander zu. Ganz plötzlich - Plopp! - legt es sich mit den vorderen und hinteren Fesseln auf den Boden, doch aufrecht und so vorsichtig, daß der überraschte Reiter nicht herunterfällt. So kann man viel besser grasen, als wenn man sich im Stehen immer bücken und den Hals lang machen muß. Der Reiter, nun ein Stockwerk tiefer, nimmt es mit Humor, salutiert, läßt das Pferdchen noch etwas Gras zupfen und treibt es dann nach einer Weile wieder hoch.

Für die letzten Teile des "Exerzierens" marschieren wir zum designierten Schlachtfeld hin. Hier hat sich ein ökologisches Massaker ereignet. An manchen Stellen wurden bis zu einem Fuß dicke Bäume dahingerafft, dicht über dem Boden abgesägt, um eine größere freie Fläche zu schaffen. Hier und da türmen sich noch Äste und Zweige auf dem Boden. Quer über das Feld ziehen sich tiefe Gräben, die unmotiviert irgendwo beginnen und irgendwo wieder aufhören. Aber wenigstens ist das Feld schön groß und weitläufig. Hier und da sind Häuserfassaden aufgebaut. Ja, wirklich, nur die Fassaden! Von der Zuschauertribüne aus sehen sie echt gut aus, doch auf der Rückseite kann man nur eine desillusionierende Bretterwand betrachten.

Von weitem sehe ich ein reiterloses Pferd übers Feld traben. Da, wo es herkommt, stehen einige Offiziere oder so im Kreis um den anscheinend noch auf dem Boden liegenden gefallenen Engel herum. Der scheint sich auch in den nächsten Minuten nicht zu rühren. Der General, der wie immer vorangesprescht ist und vor uns hält, wirft einen kurzen Blick über die Schulter zurück auf die Gruppe, und sprengt dann weiter vor zum Zielpunkt unseres Marsches, um uns mit ein paar Vivemasœurs aufzumuntern. Ist ja nur ein Adjutant, der nicht mithalten konnte.

Am späten Nachmittag, nach Ende des Exerzierens, so rasch wie möglich zum etwa 5 Minuten entfernten Narew und baden. Die erste völlig authentische Aktion dieses Tages.

Der Fluß ist an dieser Stelle etwa 50 Schritt breit, unreguliert, von Bäumen, Büschen und Schilf gesäumt, und in diesen Tagen wundervoll angenehm kühl. Da macht selbst die Sonne Spaß! Ich und Copain behalten aus falscher Bescheidenheit unsere bis auf die Oberschenkel reichenden Leinenhemden an, die anderen Schwimmer tragen alle modere Badehosen.

Abends wieder nette Unterhaltungen im Lager, diesmal mit einer kleinen Gruppe polnischer Voltigeurs, die vorhaben, das Hobby ähnlich "authentisch" wie wir zu betreiben, und uns mit zahlreichen Fragen löchern.

8. Juli: Umzug durch Warschau.

Um 7 Uhr früh werden wir aus dem Bett getrommelt. Um 8 Uhr ist Antreten zum Abmarsch, es geht zum Dorfplatz, wo wir in Busse einsteigen, die uns nach Warschau karren. Alle sind noch müde, aber wenigstens scheint die Sonne. In Warschau Antreten auf einer von der fröhlichen polnischen Sonne beschienenen Straße, wir warten ein Weilchen, dann noch eins, dann müssen wir wegtreten in den düsteren Schatten der Bäume eines Parks nebenan. Ich nutze die Zeit für ein Nickerchen.

Endlich, 12 Uhr mittags, ist es warm genug für die "Parade". Zunächst aber treten wir noch ein weiteres Weilchen auf der Straße an, um uns daran zu ergötzen, daß wir mit unserern Nägeln im weich gewordenen Asphalt einsinken.

Die "Parade" ist in Wirklichkeit einer der üblichen langweiligen Umzüge durch die Gassen der Stadt. Leider läßt uns unser Sektions-/Pelotons-Chef das ganze mit geschultertem Gewehr machen statt im Feldschritt (Pas de Route) und mit dem Gewehr à volonté. Nach einer dreiviertel Stunde Marsch ohne Rast kommen wir an dem einzigen Platz in Warschau an, der keinen Schatten bietet: er hat einen dreieckigen Grundriß und die dritte Seite öffnet sich genau nach Süden.

Hier formieren wir uns, warten wieder etwas, das Heilige Sakrament wird gegrüßt, Vivemasœur, eine Ansprache des Generals auf französisch (der eigentlich vorgesehene polnische Dolmetscher hatte soeben einen Hitzschlag erlitten). Warum der General diesmal ein Mikrophon mit Lautsprecher benutzt, ist mir immer noch unerklärlich. Nötig hat er es bei seinem kräftigen Organ jedenfalls nicht. Blabla und Vivemasœur.

Dann wird ein alter polnischer Mann nach vorne gerufen, der zum Hauptmann befördert wird. Der alte Mann greift auch zum Mikro, hält es aber so weit vom Gesicht entfernt, daß man ihn nicht versteht. Wäre ja sowieso nur polnisch gewesen. Heiliges Sakrament, Vivemasœur.

Später erfahre ich, daß er ein alter Saufkumpan des Generals sei und sie sich häufiger gegenseitig befördern, allerdings oft am nächsten Tag nicht mehr daran erinnern können. Deswegen warscheinlich der relativ niedrige Dienstgrad Hauptmann.

Krokodil ! Photo von Marcin Piontek, www.arsenal.org.pl Ein anderes Gerücht besagt, die Beförderung sei erfolgt, weil dieser alte Mann die Recherchen zur polnischen Armee gewaltig erleichtert habe. Im zweiten Weltkrieg wurden etwa 90 Prozent aller Archivalien und Originalstücke zur Armee des Großherzogtums Warschau vernichtet. Der neugebackene Hauptmann ist im wirklichen Leben Kurator in einem polnischen Militärmuseum, und nahm viele der überlebenden Stücke mit nach Hause, um an einem Buch zu arbeiten. Eine Kombination von zum Trocknen aufgehängten alten Socken und einer überhitzten Heizung führte zu einem Zimmerbrand, und dazu, daß man heute in sehr viel kürzerer Zeit sämtliche noch erhaltene Quellen zu dieser Armee studiert haben kann.

Na ja. Endlich können wir wegtreten. Ab in den Schatten. Eine Marketenderin kommt vorbei und drückt jeder Gruppe ein paar Dollarnoten in die Hand. Etwa zehn Dollar pro Soldat vom General, damit wir etwas zu trinken kaufen können. Großzügig, aber vielleicht fast schon etwas großkotzig. Ich und Copain verzichten auf unseren Anteil am Geldregen und gehen stattdessen lieber mit unseren polnischen Voltigeurs für eine Stunde ins Armeemuseum, bis es zumacht. Kneipen gibt es auch in Deutschland.

Dieser Tag hat mich einen meiner Schuhe gekostet: Die Sohle ist vorne völlig abgegangen. Auf polnisch heißt das "Krokodil", wie ich im Laufe des Nachmittags von etwa zwei dutzend Seiten erfahre. Wenigstens hab ich so ein neues Wort gelernt. Später im Lager näht der Grenadier Copain, der hinter meinem Rücken schon heimlich den Riemen meiner Wasserflasche ausgebessert hat, den Schuh notdürftig wieder zusammen.

Zurück in Pułtusk der erste Höhepunkt des Tages: ein Bad im Narew.

Abends wieder interessante Unterhaltungen im Lager. Wegen Brandgefahr ist heute das Anzünden von Lagerfeuern verboten. Feuerwehrwagen patrouillieren durch die Hauptgassen des Lagers, einige kleinere in zusammengetragenem Holz auflodernde Hoffnungsfunken auf einen stimmungsvollen Abend werden unerbittlich von den Feuerwehrleuten ausgelöscht.

9. Juli: Gefechtsdarstellung.

Wecken, vormittags Zeit zum Baden im Narew. Noch ist es zu kalt für militärische Aktionen. Gegen Mittag Antreten in der Sonne. Der General kommt vorbeigeritten und hält an, schüttelt unserem Sektions-/Pelotons-Chef die Hand und beschwört mit ein, zwei Sätzen die Erinnerung an das gemeinsame Gefecht beim Re-Enactment von La Coruña vor zwei Jahren herauf. Heiliges Sakrament, Vivemasœur. Dann weiter zur nächsten Einheit.

Nach einer weiteren Weile in der Sonne kommt irgendwann der Befehl, die Bajonette für die Schlacht abzunehmen. Ich schlage unserem Sektions-/Pelotons-Chef vor, doch seine guten Beziehungen zum General zu benutzen, um für uns eine Ausnahme zu erwirken. Er erwidert lachend, das werde er sofort tun, scheint das aber nur für einen Witz meinerseits zu halten, denn er tut nichts. Ich darf künftig nicht mehr so viele Scherze machen.

Völlig überraschend ein Befehl, in den Schatten wegzutreten. Ein Irrtum seitens unserer höheren Kommandeure? Wie dem auch sei, ein Soldat muß gehorchen.

Ich nutze die Zeit, den Lieutenant Madera aufzusuchen, der heute Dienste im Stab tut. Der Grund für die abgenommenen Bajonette ist, daß heute viele Soldaten etwas erschöpft und unkonzentriert erscheinen, obwohl sie immer in die Sonne gestellt wurden und es eigentlich auch im Schatten recht warm ist (nach Angabe mancher heute sogar 42° Celsius, aber ich hatte kein eigenes Thermometer dabei). Deswegen, und um Unfälle durch Stürze auf dem sehr ungleichmäßigen Boden des Schlachtfeldes zu vermeiden, keine Bajonette.

Mein Einwand, ich würde auf jeden Fall mein Bajonett aufgepflanzt lassen, auf eigene Verantwortung, weil ein Gefecht ohne aufgepflanztes Bajonett für mich kein "richtiges" Gefecht wäre, wird hingenommen. Umso besser.

Als ich zurückkehre und das meinem Sektions-/Pelotons-Chef berichte, fragt er nach, welcher Offizier es mir erlaubt habe, und befiehlt dann allen, das Bajonett aufzupflanzen. Immer gut, wenn man Namen weiß und die Verantwortung abschieben kann.

Kurz darauf wird wieder angetreten, damit wir uns noch etwas vom Aufenthalt im Schatten erholen können, und wir rücken ein Stückchen vor in Richtung Schlachtfeld, an dessen Rand wir wieder halten.

Wir stehen in der Sonne. Der General kommt vorbei, blickt unser Grüppchen an, und ruft plötzlich aus: "Ich kenne diesen Mann! Seit 17 Jahren!" Dieser Mann, im zweiten Glied, kennt den General auch, und grüßt ihn immer wieder, wenn er ihn mal in der Nähe des Stabes der 27e division militaire trifft.

"Seit 17 Jahren kenne ich diesen Mann! Tritt vor!"

Von der Hitze ein wenig benommen, tritt der Grenadier vor und präsentiert vorschriftsmäßig das Gewehr. Der General reicht dem Grenadier die Hand, und verkündet, vielleicht auch ein wenig von der Hitze benommen, seinem neben ihm haltenden Adjutanten die Neuigkeit: "Ich kenne diesen Mann! Seit 17 Jahren!" Die heimliche Befürchtung des Augenzeugen Grenadier Fabius, daß nun eine sofortige Beförderung zum Capitaine erfolgen würde, wird glücklicherweise nicht Wirklichkeit.

Zum Grenadier gewandt, doch anscheinend noch halb mit sich selbst sprechend: "Ich kenne diesen Mann! Du bist für mich das Symbol der ewigen Jugend!" Der Grenadier, der sich in der Sonne etwa so jugendlich fühlt wie eine drei Tage alte Schnittblume in der Sauna, und sicherlich auch so aussieht, lächelt und antwortet auch mit einem Kompliment: "Es ist schön zu sehen, daß ein Vainqueur de la Bastille den anderen nicht vergißt!" Beide haben sich 1989 in Paris anläßlich der 200-Jahr-Feier des Sturms auf die Bastille kennengelernt. Der General zieht seinen Hut, senkt den Kopf leicht und läßt sein Pferd langsam einen Schritt zurückweichen. Audienz beendet.

Der namenlose gekannte Grenadier tritt zurück ins Glied, der General, zu seinen Adjutanten gewandt: "Ich kenne diesen Mann seit 17 Jahren! Auch der Kaiser -" (wieso zeigt der Finger des Generals bei diesen Worten auf sich selbst ?) "- auch der Kaiser hat sich später immer an die Soldaten zurückerinnert, mit denen er zusammen in Reih und Glied gestanden hatte." Weiter zur nächsten Einheit. Ich hatte bisher nicht gewußt, daß der Erste Konsul früher als einfacher Soldat in Reih und Glied gestanden hatte. Aber Reisen bildet.

Wir baden noch ein wenig in der Sonne, dann geht es los ins Gefecht. Das mit dem Baden ist durchaus wörtlich gemeint, niemand hat mehr ein trockenes Hemd an, und alle Gesichter glänzen von Schweiß. Oder ist dieser Glanz die heilige Begeisterung, für die Freiheit des Menschengeschlechts zu streiten? Aber nein, wir leben ja gerade im schneeigen Dezember 1806 und kämpfen für den Empereur. Vivemasœur!

En avant en tirailleurs. Photo von www.austerlitz.org Wir werden auf den linken Flügel beordert, als Tirailleurs, den Fähigkeiten unseres Sektions-Chefs angemessen. Zunächst nehmen wir einen einzelnen feindlichen Plänkler gefangen. Er hat einen Schuß abgefeuert, und bevor er wieder geladen hat, haben wir ihn zu dritt umzingelt. Das bringt allerdings wenig Ehre, er ist ein alter Mann mit grauem Bart, und die historische Korrektheit seiner Uniform mit drei unidentifizierbaren Orden auf der Brust korrespondiert ganz offensichtlich mit den taktischen Fähigkeiten seines Kommandeurs, der ihn ohne Sekundanten an diese Stelle geschickt hat.

Wir rücken weiter vor. Gedeckt von einer der Schlachtfeld-Dekorationen in Form einer quadratischen Holzumzäunung (innen von Kameraleuten besetzt), feuern wir auf eine etwa 200 Schritt entfente, mit einer Kanone und einer Haubitze besetzte russische Baby-Schanze (hüfthohe Sandumwallung mit etwa 50 cm Durchmesser). Wenigstens die Geschütze scheinen die korrekte Größe zu haben.

Der russische Offizier, der diese Zwergenschanze verteidigt, ist sehr unternehmend, und läßt einigemale seine Haubitze aus der Schanze vorrücken, um uns hinter unserer Deckung flankierend mit Kartätschen unter Beschuß nehmen zu können. Da wir sehen, wann das Geschütz geladen ist und wann sich der Kanonier zum Abfeuern bereit macht, warnen wir uns jedesmal gegenseitig durch Zuruf. So können immer rechtzeitig Deckung nehmen und erleiden keine Verluste.

Der russische Offizier wird zunehmends nervöser. Ich habe ihn zunächst auf einer leichten Erhöhung aufrecht stehend ins Visier genommen, um seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Jetzt, nachdem er weiß, daß auf ihn geschossen wird, ziele ich aus der Deckung heraus immer weiter auf ihn. Meine Kugeln pfeifen ihm sicherlich um die Ohren, doch die Schicksalsgöttin will nicht, daß er getroffen wird. Aber wenigstens lenkt ihn das etwas von seinen eigentlichen Aufgaben im Gefecht ab.

Zwischendurch willkommener Besuch: einige Chasseurs des 9e léger haben sich ihre Musketen auf Wagen nachfahren lassen, der Wagen ist verschollen, und so sind sie unbewaffnet. Sie machen sich nützlich, indem sie durstenden Truppen, allen voran ihren Lieblingsgrenadieren von der 22e, die jetzt schon erschöpften Wasservorräte auffüllen. Während ich trinke, lädt mein alter Freund Lloyd für mich die Muskete, und ich setze anschließend damit einen russischen Artilleristen für ihn außer Gefecht.

Als sich in der Nähe, am westlichen Rand des Schlachtfeldes, die beiderseitigen Reitermassen zu tummeln beginnen, kommt dummerweise der Befehl abzurücken. Es sind aber sowieso nur insgesamt 40 bis 50 Reiter (von beiden Seiten zusammen) für das Gefecht übriggeblieben, viele Reiter fehlen, weil sie ihren Pferden oder auch sich selbst das halsbrecherische Terrain nicht zumuten wollen.

Beim Bataillon angekommen, stellen wir uns auf dessen linken Flügel auf. Unser Bataillons-Kommandeur mustert mit mürrischem Gesicht einige Male abwechselnd unsere aufgepflanzten Bajonette und die nackten Musketen seiner Leute. Dann gibt er einen Befehl auf Tschechisch, woraufhin der Rest des Bataillons seine Bajonette auch aufpflanzt.

Gerade rechtzeitig. Unsere Linie erhält den Befehl, etwa 400 Schritt weit auf den Feind vorzurücken. Kaum zu glauben, daß ich einmal ein Re-Enactment mit realistischen Gefechts-Distanzen erleben kann! Wir marschieren vor, über noch aus dem Boden herausragende Baumstumpfreste, Erdlöcher und Wurzeln, klettern über herumliegende Äste und Gebüsch und springen über oder in tiefe Gräben. Unnötigerweise läßt unser Bataillons-Kommandeur einige Male halten, um uns wieder auszurichten. Nach wenigen Schritten ist die Richtung sowieso wieder verloren. Der Feind feuert fröhlich weiter auf uns.

Wir werden erwartet. Photo von www.poloniamilitaris.pl Endlich sind wir dem Feinde nahe. Irgendwelche russische Infanterie mit gelben Kragen und rosaroten Schulterklappen. Mit gefälltem Bajonett ihnen auf den Pelz, kurz vor dem Zusammenprall nehmen sie wie wir die Gewehre senkrecht vor den Körper. Statt sinnlos rumzuschubsen und rumzudrängeln, bleiben sie stehen, bis ihr Kommandeur kommt und ihnen den Befehl zum Zurückweichen gibt. Wir bleiben stehen, und sie ziehen sich hinter einen fast sechs Fuß tiefen Graben zurück.

Erneute Attacke unsererseits, in den Graben hineingesprungen, auf der anderen Seite wieder hochgeklettert, seltsamerweise weichen sie noch einmal. Der Sieg ist unser! Im rechten Moment, denn mein rechter Schuh hat sich nun vollends aufgelöst. Nach zwei unerfolgreichen Versuchen, ihn mit einem Lappen zuzubinden, ziehe ich ihn ganz aus und mache den Rest der Schlacht halb barfuß mit.

Dann, ohne äußere Umstände, die das irgendwie nötig machen würden, kommt der Befehl, uns wieder 300 Schritt zurückzuziehen. Vielleicht liegt es nur daran, daß die Stabsoffiziere sich zwar alle die ganzen drei Tage über in Uniform und Hut genauso wie wir der Sonne ausgesetzt haben, sich aber durch die Abwesenheit von Musketen und schweren Tornistern, und weil sie beritten sind, nicht so an die Hitze gewöhnen und abhärten konnten wie wir. Da trifft man schon mal seltsame Entscheidungen.

Kurz darauf eine Art Gefechtspause, etwa 200 Schritt vom Feind entfernt, in sicherem Abstand von den nächsten Bäumen. Ein Adjutant kommt eilig angeritten: "Schuscheh! Schuscheh!" Nachdem unser Korps-Kommandeur keine Reaktion zeigt, übersetzt ein hilfreicher Soldat: "Süscheh!", so daß der Adjutant bemerkt wird und ein Befehl übermittelt werden kann.

Unser "Bataillon" gehört ja zum Korps oder zur Division des General Suchet (von Franzosen "Süscheh" und von Russen, aber nicht Tschechen, "Schuscheh", "Schuschuh" oder ähnlich ausgesprochen). Auffallend ist, daß die französischen Stäbe, vom Vivemasœur abgesehen, sämtlich in Russisch oder Tschechisch kommunizieren, vermutlich, um möglicherweise lauschende russische Spione in Verwirrung zu bringen. Oder war es der Effekt der Sonne?

Die Schlacht endet mit erneuten Bajonettattacken auf die russischen Linien. Viel manövriert wurde insgesamt nicht am heutigen Tag.

Wir sammeln uns auf einer freien schattenlosen Fläche des Schlachtfeldes, um uns für einen Umzug längs der Zuschauertribüne zu formieren. Zum Dank an die wenigen treuen Zuschauer, die es bis jetzt auf ihren sonnenbeschienenen Sitzplätzen ausgehalten haben, und die bereit sind, eine weitere halbe Stunde zu warten, bis es losgeht.

Der General sprengt wenige Schritte von uns vorbei, sein Pferd gerät durch ein Erdloch ins Straucheln, stolpert ein paar Schritte und stürzt dann vornüber zu Boden. Der General hinuntergeschleudert und kommt auf dem Rücken zu liegen. Ich lege meine Muskete zu Boden und eile nebst zwei, drei anderen hinzu, ob ich helfen kann. Ein Adjutant ist bereits vom Pferd gesprungen und kniet neben neben dem gestürzten, ich halte den Zügel seines Pferdes. Jemand anders bringt Wasser aus der Plastikflasche. Der General, noch vom Sturz benommen, rührt sich etwa ein bis zwei Sekunden lang gar nicht, seine Augen sind geschlossen, dann entfährt ihm ein langer Seufzer, der klingt, als würde ein Pferd verröcheln: "Uuuääähhhhhhüüüü!". Wir befürchten das schlimmste.

Doch plötzlich rappelt sich seine alte Kriegerseele wieder auf. Er wälzt sich behende auf die Seite, erhebt sich, von seinen beiden Adjutanten nur symbolisch unterstützt, ergreift sogleich den Sattelknopf seines Pferdes (das sich schon längst wieder erhoben hatte, um besser zugucken zu können), schwingt sich wieder in den Sattel und sprengt davon, ohne sich unmzusehen. Ein Bouillon seiner linken Epaulette hat sich aufgelöst und hängt als langer Metallfaden herab. Die Adjutanten eilen sich, ihm zu folgen.

Nach dem Umzug an der Tribüne kommen wir an der Holzhütte vorbei, in deren Schatten sich die bereits früher im Gefecht zum Glück nur leicht verwundeten Grenadiere Fabius und Tonnère aufhalten. Ich verabschiede mich aus Reih und Glied, um zu sehen, wie es beiden geht. Sie sind schon wieder einsatzbereit.

Auf dem Weg zurück zu unserer Kleingruppe sehe ich ein paar polnische Bekannte, die sich in der Sonne etwas von den Strapazen der Schlacht erholen, und geselle mich dazu. Sie berichten, daß sie im Gefecht von der russischen Artillerie mit einem Wischer beschossen worden sind, dem noch drei abgerissene Finger hinterherflogen.

Das war allerdings völlig authentisch, wie ich erfahre. Die russische Artillerie der napoleonischen Kriege hatte mit die höchste Feuergeschwindigkeit aller europäischen Artillerien, weil bei ihr auf alle Zwischenschritte beim Ladevorgang, die bloß der Sicherheit der Kanoniere dienten, verzichtet wurde. Haute es mal einen Kanonier ganz oder in Teilen weg, gab es ja genug Leute im Land, um ihn zu ersetzen. Vielleicht hätte Oleg Sokolov doch besser einen russischen General dargestellt?

Nahebei sind die anderen Truppen angetreten. Ich höre ich einige Vivemasœurs. Aufgrund seiner Verdienste in der Schlacht wird der Lieutenant Madera zum Capitaine befördert. Heiliges Sakrament. Vivemasœur.

Als ich ins Lager zurückkehre, hat der Grenadier Copain seine Muskete bereits fertig gereinigt. Das ist echter französischer Soldatengeist!

Abschließend ein erfrischendes Bad im Narew, das mich mit der Veranstaltung vollends aussöhnt.



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