Reminiszenzen aus dem Feldzug im Juni 2022

Serre-File

Kurz vor dem Abmarsch zum Bataillon erfahre ich, welche Funktion mir für die Dauer des Feldzuges zugeteilt wird: Ich bin Chef der zweiten Sektion des von capitaine Salvetat kommandierten dritten Pelotons. Ein überwiegend langweiliger Posten, da ich in der Reihe der Serre-Files hinter der Mitte meiner Sektion stehe und ihre Bewegungen überwache. Fast alle Soldaten meiner Sektion sind aber alte Hasen, denen ich nichts mehr beizubringen brauche. Und der einzige Rekrut in meiner Sektion, der naturgemäß meinen Rat gut hätte gebrauchen können, fällt bereits am Samstagmorgen aus. Er verträgt die Hitze nicht, und wir müssen ihn als felddienstuntauglich verabschieden. Schade, denn er war beim Erlernen der Gewehrgriffe sehr begabt und auch sonst sehr motiviert und lernbegierig.

Doch das Dasein als nichtstuender Serre-File hat auch seine Vorteile. Man kann in aller Seelenruhe das Gefecht beobachten (zwischen den Köpfen der Mannschaften hindurch), und sich zwischendurch mit den anderen Serre-Files in der Nähe über alles auszutauschen, was so passiert. Natürlich ist das ein schwacher Trost, denn die Manschaften machen das alles auch.

Officers.
Offiziere finden fast immer Zeit
für ein Schwätzchen zwischendurch.

Schöne Hüte, häßliche Tschakos und doofe Lagermützen

Für das gesamte Wochenende hat unser Bataillons-Kommandeur, aufgrund des Wunsches des Generalstabs der Armee, beim Exerzieren des Bataillons und im Gefecht, das Tragen von Hüten verboten. Nur Tschakos sind erlaubt. Wer keinen Tschako hat, soll stattdessen die Lagermütze tragen. Aber zumindest im Biwak dürfen wir hübsch und elegant herumlaufen.

Samstag vormittag. Ein kurze Exerzier-Pause. Ich gehe zu unserem Bataillons-Kommandeur und frage ihn, ob ihm der Mann der 22e demi-brigade de ligne aufgefallen sei, der die ganze Zeit mit Hut herumgelaufen ist. Er dreht sich um und mustert unsere etwa 40 Schritt entfernt stehende Sektion. Schließlich wendet er sich zu mir zurück und fragt: "Ich sehe ihn nicht ?" Ich grinse, zeige auf meinen Hut und sage: "Ich bin dieser Mann !" Für einen Augenblick kriegt er sich kaum ein vor Lachen. Doch als ich ihn frage, ob es da schlimm wäre, wenn wir alle Hüte tragen würden, wenn es ihm sowieso nicht auffallen würde, beharrt er auf seinem Wunsch. So mache auch ich dann die beiden Gefechte in Lagermütze statt Offiziershut mit. Ich mag ihn trotzdem.

Es atmet !

Mitten im hitzigen Gefecht. Wir sind im Feu de deux rangs. Die Soldaten feuern ohne Kommando jeder einzeln vor sich hin, wir Serre-Files haben nicht viel zu tun. Die Soldaten meiner Sektion sind routiniert, so daß ich mich auf gelegentliche Blicke, ob auch wirklich jeder beim Abfeuern darauf achtet, seine Kameraden nicht zu gefährden, beschränken kann. Unser Bataillons-Kommandeur kommt auf mich zu. Ich frage ihn, ob ihm der Klang unseres Bataillons aufgefallen sei. Wir sind etwa 150 Mann. Grob überschlagen braucht jeder Mann etwa eine Minute zum Laden und Feuern. Das sind pro Sekunde etwa zweieinhalb Schüsse. Tatsächlich sind es viel weniger, weil viele Leute inzwischen schon Probleme mit ihrer Muskete haben. Doch spätestens jede Sekunde fällt irgendwo im Bataillon ein Schuß, mal näher, mal weiter weg, wie ein langsamer ruhiger Pulsschlag, oder ein tiefer Atemzug. Der Gedanke scheint ihm zu gefallen.

Kommunikationsschwierigkeiten

Unser Bataillons-Kommandeur kommt leicht erregt auf mich zu: "Oli !! Ich war gerade beim ersten Peloton ! Ich gebe denen das Kommando Par le flanc droit – à droite ! Und nichts rührt sich ! Alle gucken mich nur an ! Ich wiederhole das Kommando. Und wieder: Nichts ! Nur Augen und offene Münder, die mich anstarren !!" Offen gesagt, überrascht mich das bei dem Kenntnisstand und dem in den letzen Jahren an den Tag gelegten Lerneifer des Kommandeurs dieses Pelotons nicht. Da können auch seine Leute nicht viel von ihm lernen, obwohl er ansonsten ein angenehmer und charismatischer Kommandeur ist. Ich frage unseren Bataillons-Kommandeur, wie er denn das Problem dann gelöst habe. Er erzählt, er habe dem Peloton-Chef erklärt, was zu tun sei, der es dann seinen Männern erklärte, und am Ende machten alle ihr Rechtsum. Zum Glück wurden wir in der Zwischenzeit nicht vom Feind angegriffen.

Wellingtons und Blüchers Mahl

Die Schlacht ist vorbei, unsere noch am Morgen so glorreiche Armee ist zersprengt. Zusammen mit Henry, unserem adjudant sous-officier, schlage ich einen Weg abseits der Hauptrückzugsroute unserer flüchtenden Truppen ein. Unser früherer caporal Père Fabius, der es inzwischen zum capitaine gebracht hat, schließt sich uns an. Wir stoßen auf das Zelt von Chantal, einer meiner Lieblings-Marketenderinnen, die ich schon von früheren Feldzügen her kenne. Chantal ist vom feindlichen Generalstab gezwungen worden (mit Geld), für die beiden Oberkommandierenden Wellington und Blücher und deren Stab eine Mahlzeit zuzubereiten. Die beiden tauchten jedoch nicht auf, und das Essen ist kalt geworden, Chantal hat sich schon sattgegessen, und sie weiß nicht, was sie mit den Resten anstellen soll.

Französische Soldaten helfen gerne. Wir setzen uns an den gedeckten Tisch, Chantal wärmt das Essen über dem Feuer auf, wunderbar zartes Hühnchenfleisch in einer leckeren Soße, dazu Kartoffeln. Als Nachtisch gesüßte Erdbeeren, die auch "Die Erdbeeren Grouchys" genannt werden. Ihr Name soll daher stammen, daß der neu ernannte Marschall von Frankreich am Vortag, bevor er aufbrach, um die Preußen zu verfolgen, davon kostete, und so begeistert war, daß er mehr davon verlangte, und immer mehr, so daß eine geraume Zeit verging, bis er endlich tatsächlich zur Verfolgung aufbrach. In der Zwischenzeit waren die Preußen ihm entwischt und konnten uns in der heutigen Schlacht schlagen. Wir können Grouchys Handeln nachvollziehen, die Erdbeeren sind wirklich total lecker. Vielleicht wäre die Schlacht anders verlaufen, wenn Welligton und Blücher zu Chantals Mahlzeit gekommen wären ?

Trotz aller unserer Bemühungen bleibt immer noch sehr viel Essen übrig. Chantal packt es ein und gibt es mir mit. Als wir später an unseren Biwakplatz kommen, können sich auch die anderen Grenadiere der 22e demi-brigade de ligne daran ergötzen.

Das 1804e régiment d'infanterie de ligne

Aus für einen Historiker nicht völlig nachvollziehbaren Gründen befinden wir uns am nächsten Tag wieder im Gefecht. Eine kurze Gefechtspause. Ich mache ein paar Schritte zu unserem Peloton-Chef hin, für ein Schwätzchen, als ich zufällig einen Blick auf den Adler unseres Bataillons werfe. Der Adler, der am Vortag noch vollständig beflügelt gewesen war, hatte am Abend zuvor eine seiner Schwingen eingebüßt. Er soll bei einen Sturz abgebrochen sein. An der Bruchkante sieht man anstelle von Bronze eine silbrige Masse. Ich tröste mich mit dem Gedanken, daß er sicherlich in massivem Silber gegossen wurde, das dann vergoldet worden ist. Was mich jedoch erstaunt, ist der Sockel, auf dem der Adler sitzt. Auf der hinteren Seite des Sockels ist in vier plastischen, aufgesetzten Ziffern die Zahl "1804" zu erkennen. Nun, ich hatte mich immer schon gefragt, zu welchem Regiment unser Bataillon uni gehört. Auf der Vorderseite des Sockels hat das Geld jedoch nur noch für eine einzelne "4" gereicht. Passend dazu hat der Adlerträger auf seinem nummernlosen Tschakoblech mit schwarzer Farbe und sehr ungelenker Hand die Zahl "4" aufgemalt.

Überlebenskünstler

Die Schlacht ist verloren, unser Bataillon auseinandergesprengt. Auch ich, unser sergent Champagne und unser caporal Rôtisseur schlagen den Weg in Richtung Paris ein. Wir sehen in einiger Entfernung unseren Peloton-Chef, capitaine Salvetat, stehen, und gesellen uns zu ihm, noch zwei weitere Soldaten unseres Pelotons stoßen zu uns. Plötzlich blickt einer von ihnen rings in die Runde und beginnt zu lachen: der hier versammelte Rest unseres Pelotons besteht nur aus Offizieren und Unteroffizieren ! Wir vergnügen uns ein Weilchen damit, sieben verschiedene Gründe herauszufinden, woran das liegen könnte.

Survivats nées.
Nicht totzukriegen.

Lieutenant Schmidt



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