Die Überquerung des Großen Sankt-Bernhard-Passes am 14. und 15. Mai 2011

Der Bericht des Grenadiers Doigt de Fer:

Um mich herum nur Heu und Stroh. Unser Nachtquartier: ein Schafstall. Das Blöken der Tiere in allen Tonlagen und Variationen wird für die Nachtruhe gewöhnungsbedürftig sein. Auch hatte ich mir mehr Wärme von einem Stall mit so viel Vieh versprochen. Zwischendurch stimmen zwei Esel in das Schafskonzert ein, meistens aber nur, wenn sie einen von uns zu Gesicht bekommen.

Die Wolken hängen so tief, dass wir von ihnen eingeschlossen sind. Es regnet. Feuchtigkeit überall. Ab und zu muss ich das Schreiben unterbrechen, weil mir meine Hände vor lauter Zittern nicht mehr gehorchen. Gleich werden wir uns in einem nahen Gasthaus, in der Bar des Hotels „Bivouac Napoléon“ eine Zeit lang aufwärmen.

Der Tag hatte sehr warm begonnen. Davide, unser Gastgeber in Féis bei Aosta, hatte uns durch den Großen Sankt Bernhard Tunnel nach Orsières in der Schweiz gebracht, wo wir unseren Marsch beginnen wollten. Das Val d´Entremont, durch das die Dranse d´Entremont herab vom Pass in Richtung Rhône fließt war leicht auszumachen, ein Weg schnell erkannt und ihm gefolgt. Jedoch endete der Weg schon nach kurzer Zeit im Nichts, in undurchdringlichen Büschen. Rechts unter uns floss eiskalt und schnell die Dranse in ihrem schluchtartigen Bett, links über uns verlief die stark befahrene Straße nach Bourg-Saint-Pierre. Der Weg zum Bach schien uns aussichtslos, da in der Enge des Tales kein Weg zu erkennen war; also wählten wir den Weg zur Straße hinauf. Weg ist nicht das richtige Wort für einen überaus steilen Hang, der mit Gras und allerlei stacheligen Pflanzen bewachsen war. Wir kraxelten die Böschung hinauf, schwer beladen mit unserer Ausrüstung. Zusätzlich zum dreizehn Kilogramm schweren Tornister auf dem Rücken musste auch die fast fünf Kilogramm schwere Muskete den Berg hochgeschleppt werden. Hart schlug der Puls im Hals. Noch hatte man sich nicht an die ungewohnte, enge Kleidung und die zu schleppende Last gewöhnt. Nass geschwitzt erreichten wir die Straße, überstiegen die Leitplanke und machten eine Pause am Straßenrand, wo ich mich der Erschöpfung nahe auf den Asphalt der Straße legte.

Kaum begonnen sah ich unser Unternehmen schon gescheitert. Ich erholte mich aber doch recht zügig, und so wollten wir der Straße bergauf folgen bis wir einen gangbaren Weg finden würden. Schon bald zweigte bei Fontaine Dessous ein asphaltierter Wirtschaftsweg nach rechts ab, den wir einschlugen. Nach wenigen Minuten kam uns eine Frau entgegen, die uns begeistert fotografierte und uns sogleich bat, zu einem kleinen Aperitif zu ihr und ihren Eltern und ihrer Schwester auf einen nahegelegenen Bauernhof zu kommen. Ihr Vater sei mit seinen 97 Jahren sehr geschichtsinteressiert. Wir nahmen dankend an, auch in der Hoffnung etwas Zuverlässiges über unseren weiteren Weg erfahren zu können.

Wir traten in die niedrige Stube, in der hinter einem Tisch vor den Fenstern der alte Vater und die auch schon 91-jährige Mutter saßen. Freundlich und neugierig wurden wir begrüßt. Man reichte ein wenig Gebäck und schenkte kalten Weißwein aus. Während Oli die Gesellschaft unterhielt, sprach ich mit der Schwester über den Weg nach Bourg-Saint-Pierre. Ich erfuhr, dass der Pilgerweg der „Via Francigena“ von Canterbury nach Rom unmittelbar unterhalb ihres Hofes „Les Moulins“ an der Dranse entlang liefe und ihm leicht zu folgen sei. Nach herzlichem Abschied und drei Äpfeln zusätzlich im Gepäck zogen wir in den Wald hinein und am Fluss entlang. Die Schwäche zu Beginn war vergessen, der Weg nur leicht ansteigend. Bald aber verengte sich das Bachtal zur Schlucht, die wir nach links hoch in den Wald verlassen mussten. Hohe Stufen waren ins Gelände eingeschnitten, so dass wir unsere ganze Last ordentlich hochstemmen mussten. Das Herz klopfte wie wild unter der großen, Last. Langsam, mit möglichst kleinen Schritten erreichten wir die Höhe und überquerten hoch über der Dranse eine Brücke, den Pont de la Tsi, waren also jetzt auf dem rechten Ufer des Flusses, das wir bis kurz vor Bourg-Saint-Pierre nicht mehr verlassen sollten. Gemächlich folgten wir dem stets aufsteigenden Weg. Liddes wurde links liegen gelassen, Drance durchquert. Die Wolken wurden dichter, und es begann leicht zu nieseln. Als wir schließlich die Dranse erneut überquerten, wussten wir, dass wir kurz unterhalb unseres Ziels waren. Ein nochmals sehr steiler Anstieg über ein Wiesengelände kürzte den Weg ab und brachte uns dann nach ungefähr fünf Stunden ans Ziel dieses Tages auf 1632 m über dem Meeresspiegel. Rund 700 m waren wir heute aufgestiegen.

Mittlerweile war der Regen etwas stärker geworden. Die Wolken hingen tief. Unsere erste Sorge hier in Bourg galt dem Nachtquartier. Hier, wo zur Zeit des Alpenübergangs Bonapartes vor 211 Jahren ein großes Biwak der Reservearmee unter dem Kommando von General Marmont eingerichtet war, wo die Wagen und Geschütze zerlegt und in Einzelteilen auf Maultiere verladen wurden, wo die Kanonenrohre in ausgehöhlte Baumstämme gelegt wurden, um von an die hundert Soldaten den Berg hinaufgezogen zu werden, wo Bonaparte nur eine kurze Frühstücksrast einlegte, als er von Martigny bis über den Pass geritten war, hier also suchten wir einen Stall mit Stroh für die Nacht.

Wir wollten zum Pfarrer gehen, da dieser auch Pilger beherbergte, die auf der „Via Francigena“ unterwegs waren. Dieser Pfarrer war der ehemalige Prior des Hospiz oben auf dem Pass. Auf der Hauptstraße, die einsam und verlassen dalag, sprachen wir einen Mann an, der sich vom Wetter nicht hatte abschrecken lassen und durch den Regen eilte. Er teilte uns auf unsere Frage mit, dass der Curé nicht mehr im Ort sei, wegen eines Gehirnschlags. Er verwies uns an eine Frau, die neben dem Pfarrhaus wohnte und die uns weiterhelfen könne.

Wir begaben uns dorthin, klingelten und wurden sogleich freundlich hinein gebeten. Sie sei sehr überrascht uns zu sehen, da sie gerade einen Film über Katharina die Große im Fernsehen ansah, und nun stünden drei französische Grenadiere hier vor ihrer Tür. Während wir in der Küche Platz nahmen ging Catherine Ramseier telefonieren, um zu hören, ob es in Bourg eine Übernachtungsmöglichkeit nach unseren Vorstellungen gäbe. Schnell kam Catherine zurück in die Küche. Ein gewisser Claude Lattion habe eine Schäferei am Anfang des Dorfes. Dahin sollten wir gehen, da könnten wir bleiben.

Catherine bot uns Kaffee an, den wir bereitwillig und dankbar annahmen. Eine ganze Weile unterhielten wir uns, um schließlich für den nächsten Morgen zum Frühstück eingeladen zu werden. Um sechs Uhr früh!

Nach mehrmaligem Nachfragen fanden wir Mr. Lattion, der uns den Weg zu seinem Schafstall beschrieb, selbst aber auch nachkommen wollte. Die Nacht war ungemütlich, es zog durch alle Ritzen, laut war sie, die Schafe schienen sich immer wieder mitteilen zu müssen, und der Regen prasselte auf das Stalldach. Die nassen Strümpfe und die feuchten Kleider ließen einen schnell auskühlen. Man hatte am Morgen den Eindruck, die ganze Nacht wach gelegen zu haben, vor Kälte. Deshalb waren wir froh, schon früh vor sechs Uhr unser Lager verlassen zu dürfen, in Vorfreude auf einen heißen Kaffee bei Catherine. Als wir ankamen, hatte Catherine schon den Tisch gedeckt, der Kaffee war fertig und im offenen Kamin brannten zwei Buchenscheite. Nach anderthalb Stunden im Warmen und angeregter Unterhaltung verabschiedeten wir uns herzlich von unserer Gastgeberin und begannen gestärkt den heutigen Marsch.

Der Regen hatte aufgehört, aber die Temperaturen lagen nur bei knapp über 0 Grad. Auf den Höhen konnte man von Raureif und Schnee bedeckte Bäume sehen. Die Frostgrenze war gut zu erkennen, oberhalb waren die Bäume weiß, unterhalb grün. Heute würden wir weit über die Frostgrenze hinauskommen, da der Pass bei 2469 m über M. lag.

Wir kamen gut voran. Bald erreichten wir den Stausee „Lac des Toules“, den wir auf seiner Westseite passierten. Auf der Ostseite des zur Zeit leeren Sees lag die unter einer Galerie führende Passstraße. Ab und zu fiel Schnee, die Landschaft sah aus wie mit Puderzucker bestreut. Ein eisiger Wind pfiff. Nervenzehrend waren die häufigen Abstiege im Gelände. Man wusste nur zu gut, dass einem solchen Abstieg ein steiler Anstieg folgen würde. Das zermürbte, dazu die Kälte und der Wind. Da die Passstraße hinter dem Abzweig des Sankt-Bernhard-Tunnels für Fahrzeuge gesperrt war, reifte in uns die Überlegung ab Maringo, wo der Pilgerweg nahe an die Straße heranführt, der Straße zu folgen und nicht mehr dem Pilgerweg, der laut Karte auf eine Höhe noch höher gelegen als der Pass führen würde. Die Straße ist zwar asphaltiert und dadurch „modern“, aber die Trasse der Straße folgt dem alten Weg zum Pass, der 1905 zur befahrbaren Straße ausgebaut worden ist.

Der Weg bisher und nun die Straße führten uns immer westlich des Grand-Combin-Massivs entlang. Die gleichmäßige Steigung der Straße kam unserem Vorwärtskommen sehr entgegen. Schließlich gelangten wir nach fünfstündigem Marsch zum Pass. Welch eine Erleichterung, die Gebäude des Hospiz in der Ferne zu sehen. Je näher wir dem Pass kamen, desto winterlicher wurde es. Hohe Schneeverwehungen und Schneewände begrenzten die Straße, die teilweise noch mit Schnee und Eisplatten bedeckt war. Kurz vor dem Hospiz setzte ein Schneetreiben ein, der eiskalte Nordwind lebte auf. Die letzten Meter zum Hospiz stapften wir durch hohen Schnee. Gleich stiegen wir die vereisten Stufen zum Hospiz hoch und öffneten die alte Eingangstür. Sogleich wurden wir von Stille und Wärme umschlossen, endlich! Wir folgten dem Hauptgang und fanden einen Aufenthaltsraum mit Tischen und Bänken. Eine Bedienstete servierte uns einen heißen Tee, der unsere Lebensgeister wieder erweckte. Aus unseren Tornistern kramten wir unsere Marschverpflegung hervor: Schinken, Käse und Brot. Kurz nach uns betraten drei Wanderer die Stube, die wir schon unterwegs im Berghang gesehen hatten. Drei Österreicher, einer von ihnen auf dem Pilgerweg von Canterbury nach Rom. Am 6. April war er losgegangen und hatte jetzt die Hälfte der Strecke hinter sich, nach 39 Tagen.

Nach einer Stunde Rast nahmen wir den Weg wieder auf. Hinaus in die eisige Kälte und den hohen Schnee. Von den berühmten Bernhardinerhunden war nichts zu sehen und zu hören. Die werden heute in Martigny gezüchtet und kommen nur im Sommer für die Touristen nach oben auf den Pass. Wir bahnten uns den Weg durch Schneeverwehungen, unter denen die Straße nach Italien lag, gingen um den zugefrorenen See südlich des Passes herum und waren schon bald auf dem Weg abwärts ins Tal von Aosta. Je weiter wir talabwärts marschierten, desto weniger eisig wurde der Wind, bis er irgendwann gar nicht mehr störte. Das erste Stück des Abstiegs führte uns die Straße entlang, die bald den alten Wanderweg kreuzte, den wir dann einschlugen. Nach weiteren drei Stunden permanenten Abstiegs erreichten wir endlich Saint-Rhémy-en-Bosses. Wir hatten in zwei Tagen ungefähr 35 km zurückgelegt, davon 27 km nur bergauf, von ca. 900 m über M. auf 2469 m, und schließlich wieder hinunter auf 1632 m. 13 Stunden hatten wir dazu benötigt. Wir waren nicht mit moderner Wanderausrüstung unterwegs gewesen, sondern in der Kleidung von Soldaten des Jahres 1800, also in Filzhut, Wollrock, Leinenhose und genagelten Lederschuhen. Wir waren am gleichen Tag über den Pass gegangen wie die 22. Halbbrigade im Jahre 1800 und konnten feststellen, welche Strapazen die Soldaten damals aushalten mussten. Im Gegensatz zu uns waren sie schon in Dijon in Frankreich losmarschiert, und mit dem Übergang über den Pass des Großen Sankt-Bernhard begann für sie erst ein strapazenreicher Feldzug in Norditalien, der mit dem Sieg der Franzosen bei Marengo am 14. Juni 1800 ein Ende fand.

Abschließend will ich noch eine Begegnung schildern, die sich in Etroubles zutrug, wo wir mit unseren Gastgebern Davide, Martha und Alice eine Bar aufsuchten, um uns aufzuwärmen. Bei Angela brannte ein wohliges Feuer in einem Specksteinofen. Uns wurde Rotwein gereicht und schließlich Platten mit verschiedenen Schinkensorten, dazu weißes Brot; ein Gaumenschmaus! Angela war begeistert von unserer Unternehmung, machte einige Fotos von und mit uns und versprach eines dieser Fotos rahmen zu lassen und in ihrer Gaststube aufzuhängen.

Doigt de Fer



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